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Nachtschrift

Lichtspiel

Die Weltenformel

 

AM STEG
 

Das Mädchen lässt die Füße baumeln. Sie ist klein, ihre Füße reichen nicht bis zum Wasser. Auf den Knien liegt, von Pappdeckeln gehalten, ein Schreibheft. Vielleicht sind die Umschlagseiten bunt, laden ein zum Träumen. Das kann ich von meiner Bank am Berghang aus nicht erkennen. Aber ich sehe, wie das Kind am Bleistift kaut, dann langsam weiter schreibt. Vielleicht ist die Schrift noch ungelenk. Vielleicht aber setzt sie die Buchstaben auch in schönen Schwüngen aufs Papier. Blonde Zöpfe, keine roten. Eines dieser Sommerkleider, in denen man springen und tanzen kann. Und still am Wasser sitzen. Sie schaut in den Himmel, an dem nur wenige Wolken ziehen. Sie schaut aufs Wasser, verfolgt vielleicht die Spiegelungen dort. Oder gelten die noch nichts, wenn man gerade erst gelernt hat, mit Worten zu malen? Sie schaut hinüber zum Wald. Ich kann ihrem Blick folgen. Möglich, dass zwischen den Stämmen zierliche Tierköpfe hervorlugen für sie. Dass dort, wo der Steg die Wiese erreicht, kleine Wesen ihre Köpfe wiegen, Faune, Feen, die ich längst nicht mehr erkennen kann. Sollte ich es probieren?

 

Blinzeln, bis ich kurz vorm Augenschließen eine kleine Bewegung erhasche? Die könnte von einem noch kleineren Wesen kommen, das mit trippelnden Schritten zu dem Mädchen hinüber huscht, das Papier betrachtet, dem Kind auf die Schulter klettert. Vielleicht flüstert es ihm etwas ins Ohr. Das Mädchen jedenfalls verhält einen Moment, muss lächeln, als ob sie gekitzelt werde, wischt sich über die Schulter. Dann schreibt sie weiter, scheint beinahe dem kleinen Wesen über den Kopf zu streichen. Aber ich kann mich auch täuschen. Es ist nur ein Ziehen am Ärmel des Kleides, ein Lichtspiel überm Steg, das mich narrt. Die Buchstaben wachsen auf dem Papier. Zwischen den Blättern, den Zweigen und Ästen beobachten viele verborgene Augen, was geschieht. Ob sich die Buchstaben lösen können vom Untergrund, aufsteigen und eine Runde drehen um den See. Ob sie einfach ins Wasser fallen, tropfnass zurückkehren und den ganzen Satz verschmieren. Ob sie probieren, selbst zum Blatt zu werden, zum Baum, zum Stein. Zum Säuseln des Windes im Gezweig. Es ist so still, dass ich die Wellen am Ufer hören kann. Die Beine des Mädchens wippen hin und her. Und ihr Bleistift gibt den Rhythmus dieser Stunde vor.

"Am schönsten, stillsten fügt sich das wacklige Idyll im kleinsten Text der Sammlung, der zarten Miniatur „Am Steg“, die so etwas wie eine zweite Titelgeschichte hätte sein können. Hier ist der Traum von der großen Selbstvergessenheit, denke ich, ausgeführt, um den sich die Träume und Sehnsüchte der anderen Storys herumtasten und -schlängeln, eine Art, sich, und wenn es nur für den sprichwörtlichen Moment ist, Erfüllung zuzusprechen..."
(André Schinkel)

 

Zur Premiere des Buches "Die Weltenformel" von Holger Uske am 19. März 2016 am Lesestand Buchkunst und Grafik der Leipziger Buchmesse: aufmerksame Zuhörer. Foto: D. Schmidt Zurück zum Buch